Geschichte der kleinen Dinge: Auf verlorenem Posten

Aus den Notizbüchern (2018)

Habe in letzter Zeit wieder häufig an P. denken müssen, ich würde mich freuen mal wieder mit ihm zu reden.

Ich war mit L. eine Woche alleine und wir haben wunderbare Dinge erlebt: am Lagerfeuer gelegen, Sternschnuppen geschaut und dann eingeschlafen. Auf einen Berg gestiegen, Büsten alter Kaiser, deren Namen niemand mehr kennt besichtigt, in die Berge gefahren, das Echo erjodelt, am Holzherd gekocht, die Milchstraße angeschaut, Marienkäfer und Grashüpfer gefangen (das erste war leicht, das andere weniger) und vor Glück geweint.

L. hat großes Interesse an Insekten, das gruselt die Mutter, ich finde das kurios. Und frag‘ mich, ob sich da früh eine Karriere abzeichnet. L. in E.J.s Fußstapfen, das wäre lustig.

Und dann erinnere ich mich wieder an einer dieser Jünger’schen Figuren: den verlorenen Posten. Und dann denke ich an meine Sterblichkeit und an L. Sterblichkeit (hoffentlich noch ein Jahrhundert entfernt), an die Zerstörung unserer Natur und an die Zerstörung unserer Demokratie. Und an die unabänderliche Zukunft unseres Universums. Und dann beneide ich die Christen, die an einen Gott glauben zu dem sie dereinst aufsteigen.
Ich für meinen Teil sehe zwei Tatsachen: wir (= das Leben) standen schon immer auf verlorenem Posten. Aber dafür haben wir es doch sehr weit gebracht, oder? Und wir (= Menschen) sind etwas völlig Neues, nie Dagewesenes auf diesem Planeten: Zeugen. Zeugen der Pracht und und unermeßlichen Größe dieser Schöpfung. Vielleicht wiegt das ein bißchen das Schlimme auf, daß unsere Art anstellt. Und dann ergreift mich eine merkwürdige Gelassenheit und Heiterkeit, genau die, über die Jünger schreibt, im „verlorenen Posten“. Und dann hab‘ ich das Gefühl, daß das eine Lektion ist, die wir lernen müssen: rechtzeitig loszulassen, den Strom nicht aufhalten zu wollen, voller Verzweiflung, sondern mit Freude bis zum Ende Zeuge zu sein.


Neulich der merkwürdigste Moment mit L.
Sie liegt in ihrem Bett, ich auf dem Besucherbett, Lotte legt sich so, daß wir Kopf an Kopf liegen während die Füße in entgegengesetzte Richtungen zeigen. Ich streichle ihre Haare und flüstere: „Lotte, ich liebe Dich so sehr. Du bist das Wichtigste in meinem Leben und Du bist das Wichtigste in Mamas Leben. Und eines Tages wirst Du Kinder haben und dann werden die das Wichtigste in Deinem Leben sein.“
Da dreht sie sich zu mir und sagt ganz ruhig und erwachsen „Danke“.
Ich bin total perplex und frage sie „Warum sagst Du Danke? Weil ich Dich streichle?“ Und sie sagt „Nein, für das was Du gesagt hast“.
Der Ton mit dem sie Danke sagte, war der einer erwachsenen L., die mir über Jahrzehnte zurück dankt, ein Danke aus einer Zukunft, die ich nicht kennen werde.

So einen ähnlichen Moment hatte ich mit ihr, da war sie vielleicht ein dreiviertel Jahr alt. Ich sang sie in den Schlaf, da wird sie plötzlich ganz wach und aufmerksam und schaut mich an und ich fühle mich, als ob die steinalte, dem Tode nahe Tochter, Mutter und Großmutter einen direkten Blick zurück durch ihre Kinderaugen auf ihren Vater wirft und sich all der Liebe vergewissert, in der sie aufwächst.

Manchmal frage ich mich, ob nicht Gestern und Morgen eine Illusion sind, sondern die ganze Lebenszeit als Gestalt bereits da ist und manchmal „Tunnel“ aus einem anderen Lebensalter in Kindern sprechen – oder in Alten.


An P:
Wir sind ja wie Kinder, finden bunte Steinchen und müssen sie dem anderen zeigen und ein wenig damit angeben, daß wir sehen welche Kräfte sie formten, um heimlich drauf zu hoffen, daß der andere einen ganz unerhörten Aspekt hinzufügt, auf die man selber nie gekommen wäre.

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